Viktor Frankl und Sexualität

Obwohl Viktor Emil Frankl (1905-1997) als österreichischer Neurologe, Psychiater, Gründer der Logotherapie und Existenzanalyse nicht unbedingt in sexuologischen und sexualtherapeutischen Büchern erscheint, hat er doch Einiges zur Sexualität zu sagen. Wenn wir nämlich die menschliche Existenz auf diesem Planeten und den Sinn des Daseins thematisieren, liegt es meines Erachtens sehr nahe, unter Anderem auf die Sexualität und Liebe zu kommen. Frankl sieht sogar diese Phänomene wie folgt in einem Zusammenhang:

„Viktor Frankl stellt die These auf, dass in vielen Fällen die existentielle Frustration, also das Scheitern der Sinnsuche im Leben, die Ursache für erotische Frustration und sexuelle Überkompensation ist.“[1] 

Oder könnte sogar die erotische Frustration so mächtig sein, dass sie im Gegenteil die existenzielle Frustration (mit)verursacht? In der sexualtherapeutischen Praxis sieht es nicht selten danach aus.

Der Mensch wird nicht umsonst auch als sexuelles Wesen bezeichnet – die meisten Menschen werden auf sexuellem Wege geboren, den meisten Menschen macht der Sex Spaß, bzw. die meisten Menschen wünschen sich so einen Sex, der erfüllend ist und die meisten Menschen wollen lieben und geliebt werden. Amerikanischer Sozialwissenschaftler und Gründer der Psychohistorie Lloyd DeMause (2005) bezeichnete sogar die Liebe als treibende Kraft der menschlichen Geschichte und veranschaulicht dies am Rückgang des Kindesmissbrauchs und der Kindstötungen im Laufe der Historie.[2]


Frankls konkrete Ideen und Konzepte zum Thema Sexualität

“Die Sexualität kann selbstverständlich nicht von vornherein menschlich sein. Ist sie doch etwas, das der Mensch mit anderen Lebewesen teilt. Eher ließe sich sagen, menschliche Sexualität sei jeweils mehr oder weniger menschlich geworden.”[3]

Die geschlechtliche, sexuelle Fortpflanzung haben in der Tat nicht die Menschen erfunden. Diese ist viel, viel älter – und zwar etwa 600 Millionen Jahre.[4] Seitdem ist die sexuelle Fortpflanzung eine Variante der Fortpflanzung von Lebewesen mit Zellkern.[5] Was möglicherweise die Sexualität für die Menschen am Anfang unserer Kultur bedeutet hat, können wir sehr vorsichtig und nur vage aus manchen prähistorischen Artefakten schließen, wie z.B. die mollige Schwäbische Venus (40 000 v.u.Z.) oder die schlanke, „tanzende“ Venus von Galgenberg (36 000 v.u.Z.). Dies wäre aber ein anderes und ziemlich umfangreiches Thema, obwohl ein sehr interessantes und wenig bekanntes.[6]

Da also der Mensch den Sex nicht erfunden hat, kann Sex streng genommen nicht apriori menschlich sein, wie es Frankl postuliert. Vermenschlicht haben ihn logischerweise erst die Menschen. Viele von uns haben schon mal gesehen, wie es manche Tiere treiben. Ob es ihnen Spaß macht oder es ausschließlich triebgesteuert tun, müssten wir die Tiere fragen. Da aber Tiere lernen können (manche sogar schneller, besser als der Mensch), könnten wir davon ausgehen, dass sie auch das wiederholen, was sie körperlich als angenehm wahrgenommen haben. Und scheinbar hat „der Schöpfer“ vor Allem den Abschluss des Sex als sehr angenehm programmiert, damit wir es immer wieder tun (wollen). Sonst gäbe es uns nicht.

 

Die 3 Stadien der sexuellen Reifung

Wie wird also die Sexualität nach Frankl menschlich? Er konzipiert drei Stadien der sexuellen Reifung:

1. Stadium

“Auf der unreifen (sexuellen) Stufe menschlicher Sexualität wird …vom Trieb eigentlich nur das Ziel verfolgt, und das ist die Entladung von Erregung und Spannung, ungeachtet des Weges, auf dem er sie erreicht. Masturbation tut es auch.”[7]

So tun es sowohl Kinder als auch Erwachsene und zwar nicht nur die Sexsüchtigen oder manche sexuell devianten Personen. Frauen masturbieren eher dann, wenn es ihnen gut geht. Männer v.a. dann, wenn es ihnen nicht gut geht – eben als Spannungs- und Stressabfuhr. Wer sich selbstbefriedigt, tut es auch in einer Beziehung, nur seltener. Sind dann diese Männer und sogar Frauen sexuell unreif, die situativ nur eine libidinöse Entladung verfolgen, egal, auf welchem Wege?

2. Stadium

Das zweite (erotische) Stadium setzt auch das Triebobjekt, den/die Partner(in) voraus. Unreif daran ist aber, “dass der Mensch, der einen Mitmenschen wirklich nur zum Zwecke der Abfuhr von Erregung und Spannung braucht, den Geschlechtsverkehr in Wirklichkeit in einen masturbatorischen Akt umfunktioniert.”[8]

Dies betrifft also wieder z.B. Nymphomaninnen und Satyren (männliche Nymphomane), Sexsüchtige, Freier und Freierinnen – ja, es gibt sie auch, häufig z.B. als Sexturistinnen und zwar spätestens seit dem 19. Jh. (siehe Svoboda 2021) oder als Kundinnen von Gigolos.[9] Die Prostitution, als „das älteste Gewerbe der Welt“, erwirtschaftet jährlich etwa 186 Milliarden $.[10] Das klingt nach sehr vielen unreifen Personen, bzw. überwiegend, aber nicht nur, Männern. Spannende philosophisch-moralisch-praktische Frage: Einen einvernehmlichen Sex nur wegen diesem Sex zu haben? Ist es OK oder doch unreif?

3. Stadium

Das dritte, reife, liebende Stadium nach Frankl ist erst erreicht, “wenn sich der eine auf den anderen nicht mehr wie auf ein Mittel zum Zweck bezieht, nicht mehr wie auf ein Objekt, vielmehr wie auf ein Subjekt…In dieser reifen Stufe ist die Beziehung auf die menschliche Ebene angehoben, wird aus der Beziehung eine Begegnung, in deren Rahmen der eine Partner vom anderen in seiner Menschlichkeit erfasst wird. Wird er aber von ihm nicht nur in seiner Menschlichkeit, sondern in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit erfahren, so schlägt die Begegnung in eine Liebesbeziehung um.”[11]

Wenn das nicht das Ziel und Wunsch der meisten Menschen ist, dann ist etwas schiefgelaufen. Oder? Aber nur die Ideale sind per se ideal, also nicht automatisch, selbstverständlich, nicht immer und überall vorhanden. Und dass dies eben bei der Suche einer Liebesbeziehung mehr als spürbar ist, muss ich wahrscheinlich nicht sagen. Frankls Hervorheben der Einzigartigkeit der geliebten Person finde ich aber sehr treffend – es sind nämlich nicht nur unsere Stärken und gute Eigenschaften, die uns Menschen ausmachen, es sind genauso unsere Schwächen und Macken. Erst dann sind wir alle einzigartig und erst dann ist es eine Liebe, wenn sie die ganze Person umarmt und nicht nur das Idealisierte.

 

Wie wir erfüllenden Sex erreichen

Sexualtherapeutisch relevant aber vor allem ziemlich praktisch sind meiner Meinung nach folgende Ausführungen und Mechanismen, wie sie nach Frankl funktionieren:

“Je mehr es dem Menschen um die Lust geht, um so mehr vergeht sie ihm auch schon… Die meisten Fälle von Potenzstörung und Frigidität sind gerade darauf zurückzuführen, dass der Patient sich zur sexuellen Leistungsfähigkeit verpflichtet fühlt. Der Versuch aber, bei einer technischen Vervollkommnung des Sexualakts seine Zuflucht zu suchen, verschlimmert nur die Situation, indem sie einem den Rest von Unmittelbarkeit und Unbefangenheit raubt, die eine Bedingung normaler Sexualität sind. In das existentielle Vakuum, in diese Sinnleere (vieler heutiger Menschen) wuchert die sexuelle Libido hinein. Dies lässt auch die sexuelle Inflation verstehen. Wie die Inflation auf dem Geldmarkt, so geht auch die sexuelle Inflation mit einer Entwertung einher. Und zwar beruht diese Entwertung auf einer Entmenschlichung. Denn wirklich menschliche Sexualität ist immer auch schon mehr als bloße Sexualität, und zwar insofern als sie Ausdruck des Liebesstrebens ist. Ist sie es aber nicht, dann kommt es auch gar nicht zu einem vollen Sexualgenuss.”[12]

Stimmt‘s? Der ausschließliche sexuelle Fokus auf Leistung, auf den Orgasmus, ja sogar auf gleichzeitige Orgasmen, auf eine fehlerfreie Penetration, auf eine ausreichende Erektion, auf das Fehlen von Schmerzen, auf die zeitlich passende Ejakulation sind alles ziemlich fragile und ambivalente mental-körperliche Mechanismen, die sehr häufig in die Sackgasse führen. Und selbst ein technisch ausgezeichneter Sexualakt garantiert keine emotionale Erfüllung, keine erfüllende Sexualität. Dafür ist Einiges mehr nötig.

Es sind immer mindestens drei Richter im Spiel – unser Kopf/Vernunft, unser Herz/Emotionen und unser Genital/Lust. Wenn Eins davon nicht mitmacht, kann es schwieriger werden. Und der Performance-Fokus ist beinah omnipräsent und im Bereich des Körperlichen ziemlich deutlich. Darunter leidet aber die Spontaneität und die Authentizität, die unter Anderem einen guten Sex ausmachen.

Spannend ist die Frankelsche erotische Inflation. Viele Männer und Frauen wünschen sich in der Tat mehr Sex, als sie haben. Wenn mensch aber im Rahmen einer Sexualtherapie nachhackt, scheinen sie eher einen besseren statt häufigeren Sex haben zu wollen. Und das ist ein Riesenunterschied. Ein entmenschlichter Sex findet sehr häufig statt. Und zwar auch im Rahmen der Paarsexualität – deswegen besuchen diese Paare die sexuologischen Praxen. Erfüllende Sexualität ist zwar wunderschön, aber nicht selbstverständlich, nicht automatisch, bzw. nicht einfach. Es ist ein ziemlich komplexes Phänomen, das nicht nur die Lust auf Sex voraussetzt, sondern auch die Lust auf Beziehung, in der dieser Sex stattfinden soll. Laut Viktor Frankl ist also die reife, menschliche Sexualität ein Ausdruck des Liebesstrebens, bzw. des Liebeserlebens. Aber Vorsicht! Vorhandene Liebe scheint kein Garant für erfüllende Sexualität zu sein! Auch das lehrt das Leben und unsere sexualtherapeutische Praxis.

Abschließend noch ein Gedandekanstoß bezüglich unglücklicher Liebe, die es (nicht) gibt:

„Das Ansichtigwerden von Werten kann einen Menschen nur bereichern. Also muss auch die Liebe den Liebenden auf jeden Fall bereichern. Es gibt somit keine „unglückliche Liebe“, kann keine geben; „unglückliche Liebe“ ist ein Widerspruch in sich selbst.“[13]

Oder?

 

Autor: Dr. phil. Mgr. Aleš Svoboda, M.A.
Sexualmedizinische Praxis Graz
www.sexmed.at

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Quellen

[1] https://shop.auditorium-netzwerk.de/detail/index/sArticle/6032

[2] Vgl. DeMause, L. (2005): Das emotionale Leben der Nationen. Celovec: Drava.

[3] Frankl, V. (1991): Der Wille zum Sinn. München: Piper. S. 22.

[4] Vgl. https://www.welt.de/wissenschaft/article109800814/Die-Erfindung-des-Sex.html

[5] Vgl. Sarah P., O.: Sexual Reproduction and the Evolution of Sex. In: Nature Education 1 (2008).

[6] Vgl. Svoboda, A. (2021): Sexuell übergriffige Mädchen. Kinder zwischen sexulwissenschaftlichen Fakten und gesellschaftlichem Tabu. Berlin: neopubli.

[7] Frankl, V. (1991): Der Wille zum Sinn. München: Piper. S. 22.

[8] Ebd.

[9] Vgl. https://abcnews.go.com/Business/secrets-gigolos-women-pay-sex/story?id=15644065&singlePage=true

[10] Vgl. https://havocscope.com/prostitution-revenue-by-country/

[11] Frankl, V. (1991): Der Wille zum Sinn. München: Piper. S. 22.

[12] Ebd., S. 20.

[13] Frankl, E., V.: (2004): Die ärztliche Seelsorge. Wien: Deuticke. S. 42.

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